Zwei Leben ein Baum
"Es ist, als ob ich mit nur einem Bein leben soll.", sagt er und ich spüre sein wundes Herz, was immer noch für zwei schlägt. Heute habe ich meinen Vater in der alten Heimat besucht. In unserem Garten steht ein Gingkobaum. Er wurzelt dort seit der Silbernen Hochzeit meiner Eltern. Das ist Jahrzehnte her. Meine Mutter ist die Liebe seines Lebens und er wusste schon als Kind im Sandkasten, dass er diese Frau einmal heiraten will. So wie Goethe es in seinem Gedicht über den Gingko schreibt, so ist wohl auch diese Liebe. Aus einem Stamm. Aus einem Blatt. Jahrzehntelang sind sie zusammen gewachsen und zusammen geblieben. Ich erinnere mich an das zerlesene Buch im Regal "Wir bleiben zusammen." Jetzt lebt meine Mutter im Pflegeheim und er besucht sie 3 mal in der Woche. Sie essen zusammen, machen Sport zusammen und gehen in den Park spazieren. Die Liebe seines Lebens. Er teilt Momente des Glücks mit ihr, Momente des Leidens und pflegt ihre gemeinsamen Erinnerungen und das gemeinsame Leben. "Wir müssen alle mal sterben", sagt er zu ihr. "ICH NICHT.", sagt meine Mutter mit ganzer Kraft. Und so lebt sie. In dem Dazwischen, dass niemand wirklich Abschied nehmen lässt. Und mein Vater kann sich ein Leben allein nicht vorstellen. Wie auch - mit nur einem Bein. Und halbem Herzen.
Für mich ist meine Mutter letzten Winter gestorben - in dieser Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr, als alles immer schlimmer wurde und sie Essen, Trinken und manchmal auch das Atmen verweigerte. In dieser Zeit, als sie aus dem Fenster sprang und hilflos auf der Straße umherirrte. Demenz ist immer noch ein Tabu. Und Familien schämen sich dafür. Ich schreibe dies heute, weil es nichts zu beschämen gibt und weil ich mir wünsche, dass der Umgang mit psychischen Erkrankungen ein anderer wird. Ich wünsche mir, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen wieder mitten unter uns leben können statt in der Klinik am Rande der Stadt. Ich wünsche mir, dass unsere Gemeinschaft Verantwortung übernimmt für die kollektiven Schatten, die sie für uns tragen.
Für mich ist meine Mutter letzten Winter gestorben. Wir sind diesen letzten Weg gemeinsam gegangen. Ich schaute zu, wie sie dünner und blasser wurde und nicht mehr laufen konnte. Ich hielt ihre Hand während die Lebensfarben aus ihr flossen und sie gegen all die alten Dämonen in ihr kämpfte. Ich schaute ihr in die immer trüber werdenden Augen und lauschte all den schrecklichen Geschichten, in denen sie zwischen Wahn und Wirklichkeit litt. Ich besprach die Palliative Versorgung mit den Ärzt:Innen und nahm Abschied. Etwas in mir freute sich auf den Frieden, den ich mir vom Tod meiner Mutter erhoffte - für uns alle. Frühdemenz hieß es, genau zu der Zeit, als wir uns als Mutter und Tochter wiederfanden nach so unterschiedlichen Wegen. Und die bewusste Brücke, die wir in unseren Herzen zueinander bauten, verschwand nach und nach im Nebel des Sterbens ihrer Hirnzellen, niemals jedoch in unseren Herzen. Ich erinnere mich noch an diesen einen Blick, als ich sie im Krankenhaus besuchte - und ihr gequältes Flüstern, ob sie nicht endlich jemand töten könnte. Ich erinnere mich an Ihre Wut und Verzweiflung. Und ich erinnere mich an Ihre Zärtlichkeit mit der sie die Puppe streichelte, die ich ihr geschenkt hatte. "Die hat mir meine Mama gegeben." Meine Mutter nahm den Weg zurück und starb dann irgendwie doch nicht. So geht unser Weg weiter. Und ich setze Schritt für Schritt auf meinem.
Jetzt lebt sie in einem hellen Pflegeheim mit Park, einem eigenen Zimmer mit Bad und Fernseher. Mit liebevollen Menschen um sie herum, die sich kümmern. Sie sieht aus wie das blühende Leben, sie isst und trinkt, ist fit wie ein Turnschuh und fragt meinen Vater, wie es denn dem Mädchen geht. Morgens hat sie meistens ihre guten Zeiten. Ab Mittag kommen sie wieder - die Unruhe, die Rastlosigkeit und die alten Bilder. "Wann kann ich nach Hause?" fragt sie. Und meinem Vater zerreisst es dreimal in der Woche und jede Nacht, in der er von ihr träumt das Herz. "Gar nicht mehr. Ich schaffe das nicht zu Hause mit dir." Und sie nickt und lässt sich von der Pflegeschwester ablenken und geht mit ihr mit.
Ich träume nur noch selten den Traum, in dem sie mich bittet, dass ich sie töte. Den Traum, in dem sie mich erinnert, dass sie so doch niemals leben wollte. Meistens träume ich jetzt von Ihrer Zärtlichkeit und ihrem Pfiff, mit dem sie mich auf dem Sportplatz zu Höchstleistungen antrieb. Ich träume von ihren Händen während sie meine Zöpfe flechtet und von dem Abend, an dem sie mir das Puppengeschirr kaufte, was ich mir so sehr gewünscht hatte. Ich träume nicht mehr von ihren harten Händen und auch die Enge ihrer Angst ist fort in mir. Manche Menschen haben schlaue Ratschläge für mich und meine Familie. Für den Mann, der sich ein neues Leben ohne Frau aufbauen soll. Er hat doch noch so viel. Und es müsse doch weitergehen, sein Leben. Was, wenn es das nicht muss. Das Leben meiner Eltern gehört ihnen. So wie mein Leben mir gehört. Ich habe vor ein paar Jahren mit meinem Vater gesprochen, dass ich darüber schreiben will, wie es mir geht mit der Demenz meiner Mutter. Und damals hatte er Angst "das geht niemanden etwas an..". Etwas später sagte er "ich vertraue dir. So, wie du das machst, ist es richtig." Und so schreibe ich für mich und auch für dich, wenn du Demenz bei dir oder in deiner Familie kennst. Ich möchte, dass du spürst, dass du damit nicht alleine bist und dass nur du allein weißt, was für dich in jeder Situation das Richtige ist.
Heute hat mich mein Vater in der Arm genommen und sinngemäß gesagt " ...es ist in Ordnung...besuch sie nicht, nimm deine Kraft für dich und die Kinder. Lebe." Die genauen Worte verschwimmen in den Tränen der Erinnerung. Was ich fühle, ist seine Hand in meinem Rücken und seine Liebe für mich. Was ich fühle, ist meine Hand in seinem Rücken und meine Liebe. Dieser Weg ist der Eigene und der Gemeinsame.
Für mich ist meine Mutter letzten Winter gestorben. Ich bin nicht bereit, noch einmal Aufmerksamkeit und Energie in ein neues Leben und neue Verbindungen zu geben. Ob das ein richtiger Weg ist, weiß ich nicht. Wie es weitergeht, weiß ich auch nicht. Ihr Tod liegt nicht in meinen Händen, auch wenn ich mir das manchmal wünsche. Es ist meiner. Für mich ist es stimmig, meine Mutter nicht hier festzuhalten, indem ich sie besuche. Für mich ist es stimmig, mir nicht wieder und wieder den Schmerz zuzufügen, mutterlos zu sein. In mir spüre ich meine Mutter. In all dem, was wir gemeinsam erlebt haben. Und auch in dem, wie wir jetzt durchs Leben gehen. Ich sehe sie auf Ihrer Brücke stehen, nicht mehr ganz hier und noch nicht ganz dort. Ich habe mich entschieden, ganz hier zu sein. Wenn ich morgens die Kerzen für meine Stille anzünde, lächelt mein Herz ihr zu und sie lächelt zurück. Unsere Brücke im Herzen ist echt. Manchmal denke ich, dass ich erst zu ihr und in mein Leben finden konnte, als ich sie verlassen habe - dort auf ihrer Brücke im Dazwischen.
Dieser Tag heute ist ein Besonderer für mich. Ich atme in Freiheit und in Dankbarkeit das Kind dieser Eltern zu sein. Ich atme in Freude an meinem Leben. Ich atme in bewusster Trennung von einem leidvollen Weg. Manchmal ist es für manche Menschen gut, sich vom Leiden am Leben abzuwenden. Es fühlt sich an wie eine Neugeburt dieser Tag. Gemeinsam haben wir heute als Familie neue Samen gesät. Samen von sich lieben lassen, ehrlich miteinander sprechen und einander frei geben, ohne den alten Gram oder die Bitterkeit der Vergangenheit mit hinein zu legen. Und meine Mutter auf ihrer Brücke lächelt. Ich habe meinen Vater schon immer für sein weiches Herz und seine Tränen geschätzt. Heute tue ich dies noch einmal mehr. Und wer will urteilen, was Liebe ist.
Ich schaue zum Gingko hinauf. Das Licht und der Wind spielen mit seinen Blättern. Möge Frieden sein. Mögest du glücklich sein.