Hast du ein Herz?

Objektherz

31
Oct
2023

Still hat es sich zurückgezogen in seine Höhle aus Kartonage. Sie hat die Wohnung gebaut. Vor vielen vielen Jahren, als ihre Freundschaft noch jung war. Es schaut auf seine abgeliebten Pfoten und das durchscheinende Netz hinter den durchgekrabbelten langen Ohren. Rot und weiß leuchtet sein künstliches Fell in der hereinscheinenden Morgensonne. Herbstlicht spiegelt sich in seinen schwarzen Knopfaugen. Etwas in ihm beginnt zu zittern während es lauscht. Und sich erinnert.

Dieser erste Moment, als ihre große weiche Hand es aus dem Regal im Laden genommen hatte. Etwas in ihm wusste, dass ein völlig neues Leben wartete. Etwas begann tief in ihm zu glühen. Das große Unbekannte jenseits des Regals, wo es seit Monaten mit den anderen Freunden wartete, flüsterte. Nach dem Klingeln und Rattern der alten Registrierkasse wurde es ziemlich harsch in eine Tasche gestopft. Gut, dass es keine Wirbelsäule hatte, die wäre wohl gebrochen.

Wenn es hätte riechen können, hätte es sicher den Duft gemocht dieses seltsamen Wesens, in dessen Bett es gelegt wurde. Und dessen Leben es nun Tag um Tag und Nacht um Nacht teilte. Unendlich viele Erinnerungen tropften durch sein watteweich gestopftes Innenleben während es weiter in seinem Haus auf dem Dachboden der Familie vor sich hin starrte. Da war ein Klang gewesen gestern Nacht und ein Schmerz. Wie konnte es denn Schmerz fühlen mitten in all dem künstlich Erschaffenen, dachte es sich, als die Stiege begann zu knarzen. Diesen Schritt erkannte es durch tausende Schritte hindurch. So fest und warm und weich hüpften nur ihre Sohlen das Holz hinauf. Zart stöhnte die alte Treppe und genoss wohlig den Kontakt. Wenn sie die Treppe hinaufging, begann selbst das Holz zu spüren, dass es lebte. Sie spürte in allem, was sie umgibt schon immer das Leben. In jeder Organik und jeder Anorganik. Und weil die Treppe gut Geheimnisse bewahren konnte, erzählte sie dies nie jemandem.

Der rot-weiße Hase spürte, wie sie sich näherte und wie plötzlich ein großes Gesicht durch die Tür hereinschaute. „Guten Morgen Schlafmütze… was machst du hier ganz allein an diesem herrlichen Herbsttag? Und sag, wieso hängen deine Ohren herunter, dass es einen Stein erweichen würde?“

Der Hase schaute hinauf zu ihr. Das kleine Mädchen war so groß geworden und selbst eine Mutter. Mit ihren warmen starken Händen holte sie ihren Hasen aus seinem Kartonhaus heraus und strahlte ihn an. Zottelte zärtlich seine flauschigen Ohren und drückte ihn an ihr Herz. Woher hatte sie wohl gewusst, dass er sie heute brauchte? Sie schnappte ihr altes durchgeliebtes Kuscheltier und packte ihn liebevoll ins Tragetuch. „Bereit für unseren Waldspaziergang alter Freund?“ Zaghaft nickte er, der Alp der Nacht drückte noch auf sein Brustbein und er war froh, an ihrer Brust Geborgenheit zu finden.

Sie war besonders. Eine besondere Erwachsene, die an manchen Tagen immer noch mit dem Kuscheltier ihrer Kindheit spazieren ging. Und er wünschte sich, dass sie niemals damit aufhören würde, auf ihre Art zu lieben. „Was quält dein Herz, mein Freund??, fragte sie.

Wenn er hätte mit den Augen rollen können, hätte er voller Scham auf den Boden geschaut. Seit letzter Nacht spürte er den Unterschied, den manche Menschen machten. Es gab echte Tiere und dann gab es Kuscheltiere. Wieso hatte er das nie gewusst? Und sich immer nur aus ihren Augen gesehen? Er hatte sich immer echt und lebendig gefühlt. Bis zu dieser Frage, die ihn nun nicht mehr los liess… „Hast du ein Herz?“ hatte dieser große Mensch ihn gefragt. Und er war sich so sicher, dass er eins hatte. Nur konnte sein Herz diesen Menschen nicht erreichen. Und er fühlte sich das erste Mal in seinem Leben als Kuscheltier grau, taub und leer. Das Wort „Objekt“ wurde neu in ihm geboren.

Zitternd drückte er sich an seine alte Freundin „...habe ich ein Herz? Bin ich echt?“. Die Augen der Frau rundeten sich im fassungslosen Staunen. Sein Schmerz fuhr ihr durch alle Knochen und ein Kaleidoskop aus Geschichten tobte durch ihren Geist. Wer entscheidet, was belebt und von Seele durchdrungen ist?

Die Spaziergänger des Herbsttages sahen die Frau zu einem Baum gehen. Dort breitete sie ihre Decke aus und lehnte sich im vertrauten Zwiegespräch mit dem Hasen an. Sie atmete und Tränen kullerten wie kristallene Murmelbäche aus ihren Augen. Hinein in sein Fell. Zärtlich knetete sie seine kleinen weißen Hasenpfoten in ihren Händen. „Weißt du noch, wie viele meiner Tränen du aufgefangen hast? Und wie oft du mit Kotze und anderen Unfeinheiten beschmiert warst? Wie oft ich meine kleinen Zähne in deinen Körper gegraben habe, weil ich Hunger hatte? Und wie oft ich mich an dir festgehalten habe, weil sonst niemand da war? Erinnerst du dich, wie bange mir bei jedem Waschgang war, den du durchmachen musstest? Weißt du noch, wie viele Geschichten wir uns erzählt haben, wie du mir die Welt erklärt hast aus deinen Augen, wenn ich die Erwachsenen einfach nicht verstanden habe? Weißt du noch, wie du meine Füsschen gewärmt hast, wenn mir kalt war und wie viel Freude ich hatte, mit dir Kakao zu trinken und den Füchsen im Pappelwald zuzuhören? Erinnerst du dich, wie ich mit dir wieder und wieder mein Herz geteilt habe und du es immer genommen hast?

IMMER.

Weißt du noch, wie oft wir Schimpfe und Schläge bekommen haben, weil wir wieder irgendetwas nicht richtig gemacht hatten? Und wie es leichter war, weil du alles mit mir getragen hast? Und wie verzweifelt ich war, als ich sah, dass dein Fell nicht nachwächst, wenn ich es dir schere? Weißt du noch, wie müde ich mit brennenden Augen im Doppelstockbett meines Kinderzimmerst saß, weil ich versuchte, die Augen so lange offen zu halten wie du? Bis ich begriff, dass deine Augen sich nur in meiner Phantasie öffnen und schließen können? Erinnerst du dich an all die schlimmen Nächte, in denen ich dich in meinen Armen haltend wiegte, weil niemand da war, um mich zu wiegen? Erinnerst du dich an all die Momente, wo ich dir meine Witze erzählte, weil du der Einzige warst, der darüber lachen konnte?

Weißt du noch, wie bitterlich ich geweint habe, als dein Körper in einen Müllsack gestopft wurde, und weg gebracht wurde, weil ich angeblich zu alt für dich war? Ich erinnere mich genau jetzt an den Moment, als mein Mann mit einem großen Eisbär vor der Tür stand, weil er verstanden hatte, was du mir bedeutest. Hast du meinen Schmerz gefühlt, als ich selbst schon Mutter war und dich wieder und wieder an mich drückte und dir meine tiefsten Geheimnisse anvertraute, so wie immer?

Auch wenn dein altes zu Hause vergangen ist und dein Körper schon lange nicht mehr existiert – fühle mich jetzt Geliebtes. Steck deine kalte Nase aus Kunststoff in meine Achselhöhle. Und leg deine Ohren um den Klang meiner Stimme. Lass mich dich wiegen wie du mich gewiegt hast, als ich klein war.

Fühle mein Herz. Erinnere dich. Und dann lausche deinem Innersten. Dein Körper ist vergangen. Du bist das Kuscheltier meiner Kindheit. Ich erinnere mich an dich mit allen Sinnen. Fühle mein Herz und dann sag mir „Hast du ein Herz?“

Tief in der Brust des Hasen begann es zu glimmen. Und er erinnerte sich. An alles.

 

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